Wir hatten zuhause einen Milchkasten. Alle hatten einen, ausnahmslos. Das heisst, es waren eigentlich zwei Kästen. Im dicken Türchen eingebaut der Briefkasten mit im Fussbereich ausgestanzten Schlitzen, damit man auf einen Blick erkennen konnte ob Post da war, wenn man von der Arbeit nachhause kam.
Damals befand er sich im Innern, am Fusse der Treppenhäuser der stets offenstehenden Mietshäuser. Der Kombikasten hatte in etwa die Grösse eines hochkant stehenden A4-Blattes. Jedenfalls hoch und gross genug, damit das Milchkesseli zusammen mit dem Milchbüchlein darin Platz fanden.
Da die grosse Mehrheit der Leute zu Fuss einkaufen gingen, respektive gehen mussten, war man froh um den Service des örtlichen Milchmannes. Sogenannte Milchlädeli, welche natürlich auch Emmentaler, Tilsiter, Appenzeller, Gruyère und Sbrinz anboten, existierten in jedem Quartier der Stadt.
Frühmorgens gingen die Milchmänner dann auf Tour, vielerorts mit ihrem einarmigen Banditen. Das waren batteriebetriebene Elektromobile (wie fortschrittlich). Eigentlich nicht mehr als ungedeckte, fahrbare Ladebrücken mit einem Schubladenstock im Heck, Butter und Käse beinhaltend.
Der Milchmann sass auf einer Art Sattel in Front, auf der linken Seite des langen schwarzen Lenkhebels, der wie ein überdimensionierter Zeigefinger vom Gefährt abstand. Jener verbunden mit zwei eng beieinander stehenden, recht kleinen Antriebsrädern. Zwischen dem sitzenden Milchmann und dem Schubladenstock die grossen mattsilbernen Milchkannen. Alpott hopste Herr Graf, so hiess unser Milchmann, von seinem leise surrenden Gefährt, schränzte eine Tanse von der Ladefläche und rollte sie auf der Bodenkante geschickt von einem Hauseingang zum nächsten. Waren sie weniger als hälftig geleert, trug er sie an einem der seitlich angebrachten Griffe.
Im Treppenhaus öffnete er einen Michkasten nach dem anderen und schaute in den Milchbüchlein nach den Bestellungen. Mit dem runden Litermass mit Giraffengriff und aus Aluminium, wie die Tanse übrigens auch, schöpfte er die gewünschte Menge Vollmilch in die Kesseli, legte je nach Bedarf noch ein Mödeli Butter oder einen Keil Käse dazu. Ein Häkchen neben die Bestellung und weiter ging’s.
Im Treppenhaus roch es nun köstlich nach Käserei, je nach Jahreszeit mal intensiver, mal weniger.
Ende Monat, oder wenn sie gerade Zeit hatte, pilgerte meine Mutter dann in den Milchladen um die Schuld zu begleichen.
Wir alle liebten Herrn Graf, der jedem Wetter ungeschützt ausgesetzt, unverdrossen seine Kunden belieferte. Stets in einen weiss gepunkteten Blaumann gekleidet, darüber eine knöchellange, elfenbeinfarbene Käserschürze.
Milchmänner gibt es längst keine mehr, die frühen Wegbereiter für Coop@home und dergleichen. Man setzte ihnen ein Denkmal !
Mit dem Aussterben dieser Berufsgattung wurden auch die Milchkästen obsolet. Es dauerte zwar ein paar Jahre, aber dann lag das A4-Blatt plötzlich quer. Oben der Briefschlitz, unten
ein Fach, in welches man beim besten Willen kein Milchkesseli mehr hineinbekommt, dafür weitaus praktischer um Pakete aufzunehmen. Als hätte man damals schon geahnt, welche Ausmasse die Paketflut nehmen würde.
Briefkasten kann man heute noch sagen, das ist weiterhin unmissverständlich. Bei: «Schau doch mal im Milchkasten nach, ob ……», fürchte ich allerdings, von einem jungen Menschen mit grossen Augen angesehen zu werden.
A4 hoch hatte als Milchkasten seine Berechtigung, nun scheint die Zeit jedoch gekommen, A4 quer jenen Namen zu geben, der seiner Bestimmung entspricht. Wie wäre es mit ZALANDO BOX ?
Titelbild: Leere Gemüse-Harasse im Berner Seeland
Blick von der Rosenhöchi (Wägital SZ) Richtung Hoch Ybrig
Nebel über dem Wägitalersee (SZ)
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