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Ganz Ohr



Eine lange Gerade.

Dann sehe ich ihn um die nächste Biegung weit voraus auf mich zukommen.

Gestählter Nullfettkörper, federnder, luftig-leichter Schritt. Schwebend fast.

Am sehnig mageren Oberarm das Handy mit Klettbändern fixiert. Feine, weisse Stäbchen ragen aus seinem Ohr. Keuchend, mit einem wohl etwas verkrampften Lächeln, mache ich mich bereit zum Gruss. Suche Blickkontakt im Moment des Kreuzens, presse möglichst locker ein «Salut» aus den Lungen. Ein verklärter, leicht erstaunter Blick streift mich nichtssagend.

 

Der Kies unter meinen Gelsohlen spricht knirschend mit mir. Letztjähriges Laub am Wegrand raschelt im Gleichklang mit dem Geflatter einer aufgeschreckten Amsel. Lustig gurgelt ein Brunnen an mir vorbei und weit aus der Ferne, wie aus einer anderen Welt, ein vager Geräuschnebel, der das pulsierende Leben der kleinen Grossstadt Zürich erahnen lässt.

 

Unübersehbares kämpft sich mir entgegen. Geballte Muskelkraft in knallig bunte Farben gepackt. Rugbyspieler oder Rausschmeisser frage ich mich in der Vorbereitung auf die Begegnung. Schon kann ich den Clip im einem seiner Ohren ausmachen, bemerke die Box am Arm, dessen wilde Gestik ich zu entschlüsseln versuche. Weit gefehlt. Der Typ spricht nicht mit mir, will mir nichts deuten. Mangels Echo verpufft mein Gruss.

 

Eine Brise fährt ruppig ins noch zartgrüne Blätterdach, bringt es sanft zum Wogen und Rauschen. Der Ruf eines frühen Kuckuck’s in weiter Ferne, der Trommelwirbel eines Spechtes, das dezente Dröhnen eines Jets im Südanflug, der Nachhall meiner Schritte. Alles Musik für meine Ohren.

 

Kurz vor der Rampe hinauf zum Loorenkopfturm, schwenkt eine pink gekleidete Joggerin vor mir in den Aufstieg ein. Ziemlich genau auf der imaginären Mittellinie. Gute Figur, perfekt sitzender Dress, hüpfender Butterzopf, anmutiger Gang. An der Federzugleine einer dieser kurzatmigen Bonsaiboxer mit Griesgramgesicht, wie ich sogar auf Distanz unschwer erkennen kann. Ihr Tempo lässt allerdings zu wünschen übrig und so räuspere ich mich im Herannahen bald vernehmlich. Das Hündchen nimmt mich wahr, spannt die Leine zum linken Wegrand, wo ich überholen will. Respektive wollte. Dann eben rechts. Das Kerlchen ist gewitzt, man gäbe es ihm nicht. Leine auch da.

 

Erst jetzt bemerke ich hinter ihrem frech abstehenden, Sonnenbrille tragenden Ohr, den weissen Knopf in der Muschel. Alles klar.

"Komme von links", trompete ich und flitze mit scheelem Seitenblick grüssend an ihr vorbei. Pinky macht einen Satz nach rechts, tut sowas wie einen Schrei und schaut mich böse an. Vermutlich. Ihre Augen kann ich hinter den dunkeln Gläsern nicht erkennen, aber ihr Gesichtsausdruck ist das Spiegelbild ihres Begleiters, der dank Federzug parieren muss. Wusch, vorbei bin ich.

 

Höchster und entferntester Punkt. Zugleich Wende der Richtung von Ost nach West. Rötlich matt schleicht sich der Vorbote des Sonnenuntergangs durch den Wald. Ein Knacken im Gehölz. Ein Schatten, meldet der Augenwinkel. Bockstill steht das Reh. Auch ich. Kurzer Blickkontakt, ein Blähen der Nüstern, ein nervöses Zucken seiner Lauscher, dann nimmt es Reissaus.

 

Weiter, den fahlen Fingern der müden Sonne entgegen, begleitet vom vielstimmigen Abendkonzert der Vögel. Tief unten das Säuseln der Stadt. Einmal das Summen eines Elektroautos, hinterher die Aggression eines überholenden Töff’s auf der Strasse, die den Wald durchschneidet. Bald der Schrei eines Pfau's im nahenden Zoo. Irgendwann auch das Klappern der Störche.

 

Ich bin glücklich, so ganz Ohr!



Fotos oben: Baumohr (Baumpilz) bei Carrel's Pferdestall, 28. Mai 2021


Foto oben: Löwenzahnwiese oberhalb Oberrieden, Zürichsee. 5. April 2024

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